Wir haben eine Idee, was Faszien sind und haben ihre Trainierbarkeit debattiert. Bevor es an praktische Beispiele geht, bringen wir beide Zutaten zusammen und beleuchten Grundprinzipien im Faszientraining.

Warum noch einmal Theorie? Sicherlich ließen sich in loser Folge diverse Übungen präsentieren. Das wird in diesem blog zu einem späteren Zeitpunkt passieren. Und wer nicht abwarten kann, findet Anregungen in regelmäßigen posts auf instagram.

Mir ist es ein Anliegen, Hintergründe zu vermitteln. Nicht nur meine Kundinnen und Kunden sollen in die Lage versetzt werden, ihr eigenes Training zu gestalten. Selbstständige Anpassungen aufgrund geänderter Rahmenbedingungen gelingen nur mit einem wohlgeordneten Werkzeugkasten.

Faszientraining – Vier Prinzipien

Fokus Funktion

Wollen wir unsere Übungswerkzeuge sortieren, so stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien Ordnung geschaffen werden soll.

Eine Variante ist, sich die Funktionen des Fasziensystems anzuschauen und die Übungen danach zu kategorisieren, welche Funktion durch die Einbindung der Übung in das Training hauptsächlich verbessert werden soll. Diesen Weg wählt das Buch ‚Faszien Fitness‘ von Robert Schleip. Es beschreibt vier Hauptfunktionen und daraus abgeleitet vier Grundprinzipien des Faszientrainings:

Funktion des FasziensystemsPrinzip im Faszientraining
BewegenFedern
FormenDehnen
VersorgenBeleben
KommunizierenSpüren

Diese vier Grundprinzipien lehren wir in dieser Form auch im Curriculum der Fascia Training Academy unter den Bezeichnungen

  • Rebound Elasticity (Federn),
  • Fascial Stretch (Dehnen),
  • Fascial Release (Beleben) und
  • Sensory Refinement (Spüren).

Hier nur in aller Kürze eine Beschreibung. Wer mehr erfahren möchte, ist herzlich zu einer Trainerausbildung der Fascia Training Academy eingeladen oder darf mich für einen Vortrag oder Workshop buchen.

Rebound Elasticity

Ähnlich einer Feder ist fasziales Gewebe in der Lage, kurzzeitig Bewegungsenergie zu speichern und dann explosiv wieder abzugeben. Oder um ein anderes Bild zu gebrauchen: bei einem Bogen wird die Sehne mit dem Pfeil entgegen der Schussrichtung „aufgeladen“ und beim Lösen fliegt der Pfeil rasant davon. Vorspannung und Gegenbewegung sind Kennzeichen der Übungen aus dem Bereich Rebound Elasticity: Hüpfen, Springen, Federn mit den Armen oder dem Rücken, Wurfbewegungen. Das Initiieren der Bewegungen nahe dem Körperzentrum dürfte Kampfkünstlern bekannt vorkommen. Und wer eher mit CrossFit etwas anfangen kann: Kipping Toes-to-Bar oder Butterfly Pullups nutzen Rebound Elasticity.

Fascial Stretch

Stretching oder Dehnen ist ein vielschichtiges Thema. Es hat eine eigene Serie von Artikeln verdient. Im Faszientraining beleuchten wir:

  • Dehnen entlang von Faszienzugbahnen unter Aufrechterhaltung einer Grundspannung im ganzen Körper anstelle lokaler Dehnung einzelner Muskelgruppen
    • Schmelzend: sanft und länger haltend wie z.B. im Yin Yoga
    • Aktiv geladen: Anspannung der gedehnten Muskulatur in der Dehnposition oder Mini-Federungen in der Dehnposition
  • Räkeln – ständige, kleine Winkelveränderung in einer schmelzenden Dehnung nach Gefühl

Fascial Release

In diese Kategorie fallen unter anderem die Selbstmassagen mit Rollen oder Bällen, die den meisten wohl beim Thema Faszientraining zuerst einfallen.

Sensory Refinement

Übungen dieses Bereichs dienen der Schulung der Körperwahrnehmung. Es geht um das bewusste Spüren von Bewegung, das Spiel mit Bewegungsmöglichkeiten, die Wahrnehmung kleinster Veränderungen, die Konzentration auf den eigenen Körper.

Faszientraining – Meine Sicht

Eine andere Darstellung

Diese Kategorisierung ist durchaus praktikabel und hat sich für ein Grundverständnis sehr bewährt. Es ist aber sicher nicht der einzige Ansatz.

Und wie vielleicht bei jeder Kategorisierung finden sich Kritikpunkte:

  • Die Reduktion auf „Elasticity“ bei der Funktion Bewegen verdrängt die anderen Aspekte der Kraftübertragung im Fasziensystem. Auch ein Bodybuilder trainiert muskuläres Bindegewebe, Sehnen etc.
  • Fascial Release ist als Bezeichnung nicht besonders gut geeignet, da „Release“ nicht genau definiert werden kann und je nach Verständnis unklar ist, ob ein solcher durch die in diesem Bereich angesiedelten Massagetechniken überhaupt erreicht wird.

Letztlich sind die Kategorien auch nicht trennscharf. Viele Übungen berühren mehrere Aspekte. Wann ist ein Federn zum Beispiel ein Training von Rebound Elasticity und wann Bestandteil einer aktiv geladenen Dehnung?

Gerade dieser letzte Punkt lässt mich oft von einem Kontinuum sprechen und hat zu folgendem Bild geführt.

Säulen im Kontinuum

Die vier Prinzipien von oben sind eingebettet. Doch was ist nun – außer der grafischen Aufbereitung – anders?

Körperwahrnehmung im Faszientraining

Zunächst einmal mag auffallen, dass Sensory Refinement im unteren Teil großen Raum einnimmt. Es stellt für mich die Basis des Faszientrainings dar.

Erstens ist anders als z.B. bei klassischem Krafttraining die Bestimmung der Trainingsintensität schwierig. Sie muss hoch genug sein, um einen Effekt zu erzielen, darf aber das Gewebe nicht über Gebühr beanspruchen.  Das gilt auch für andere Trainingsparameter. Wie stark darf ich federn? Nach wie vielen Sprüngen sollte ich aufhören? Wann ist die Zugspannung bei einem Stretch zu hoch? Wie stark darf der Druck auf der Rolle sein? Wie viel Pause muss ich lassen? Dies kann jeder nur subjektiv einschätzen und das setzt eine entsprechende Körperwahrnehmung voraus.

Zweitens ist das Fasziensystem bezogen auf die Anzahl der Rezeptoren unser größtes Sinnesorgan. Es vermittelt Propriozeption. Jüngste Erkenntnisse zeigen, dass unser zentrales Nervensystem mit der Verarbeitung dieser propriozeptiven Informationen maßgeblich für einige Effekte des Faszientrainings verantwortlich ist. Zusammen mit dem vestibulären System und dem visuellen System bildet die Propriozeption das „Dreigestirn“ der Neuroathletik – ein Ansatz, der in den letzten Jahren einige Popularität erlangt hat.

Unterteilungen

Der untere Teil des Bildes fokussiert also auf die neuronalen Funktionen. Dieser ist verknüpft mit dem oberen Teil, der eher die Struktur des Fasziensystems in den Vordergrund stellt. Neuronale und strukturelle Aspekte sind untrennbar miteinander verbunden. Sie beeinflussen sich gegenseitig. Die Art, wie wir uns bewegen oder nicht bewegen, zieht längerfristig Anpassungen im Bindegewebe nach sich. Wir hatten das schon bei der Frage der Trainierbarkeit diskutiert. Umgekehrt bestimmen die faszialen Strukturen unsere Bewegungsmöglichkeiten und Veränderungen im Bindegewebe verändern die Propriozeption.

Struktur und Funktion

Der obere Teil des Bildes symbolisiert das Kontinuum strukturbeeinflussender Trainingsreize. Die Struktur von Faszien wird wesentlich durch die extrazelluläre Matrix geprägt. Diese wiederum bringt durch die Grundsubstanz viskose Eigenschaften mit und durch die (kollagenen) Fasern elastisches Verhalten. Entsprechend gibt es Übungen, die direkt oder indirekt (über die Fibroblasten) stärker die Fasern beeinflussen, z.B. deren Dichte, Ausrichtung, Crimp (Wellung der kollagenen Fasern). Und es gibt Übungen, die eher auf die Grundsubstanz abzielen, z.B. Ver- und Entsorgung, Wasserhaushalt, Gleitfähigkeit.

Kontinuum Struktur

Zwei Beispiele

Damit wird hoffentlich die Einordnung der ursprünglichen vier Prinzipien im Bild oben nachvollziehbar. Rebound Elasticity ist eher faserorientiert, Kompression beim Fascial Release eher auf den Wasserhaushalt ausgerichtet. Zur Verdeutlichung legen wir noch zwei konkrete Übungskategorien in das Schaubild.

Beispiele im Kontinuum

Einmal das Foam Rolling, welches in einem früheren Artikel detailliert betrachtet wurde. Man erkennt dort sicher sowohl die neuronalen wie auch strukturellen Aspekte wieder.

Zweitens das plyometrische Training, oft vereinfacht als Sprungkrafttraining bezeichnet. Diese Bezeichnung deutet an, dass normalerweise auf das (muskuläre) Krafttraining geschaut wird. Genauer: auf das Training der Reaktivkraft. Über eine Gegenbewegung wird eine Muskelgruppe gedehnt und dann unmittelbar eine explosive Kontraktion angeschlossen. Klassiker: Counter Movement Jump und Drop Jump (hier als Test). Neuromuskuläre Aspekte des Dehnungs-Verkürzungszyklus – eingeleitet über den Dehnreflex – standen in der Betrachtung im Vordergrund und Eigenschaften des faszialen Systems wurden eher am Rande betrachtet. Die Rebound Elasticity in obigem Vier-Säulen-Modell betont dagegen eher die Energiespeicherfähigkeit der faszialen Strukturen. In meinem Bild ist der Kontext bewusst größer gefasst und schließt wie beim Foam Rolling neuronale und strukturelle Aspekte ein.

Kritik

Aber natürlich fehlt immer noch die muskuläre Dimension. Hinzu kommt, dass der untere Teil im Bild sehr auf die Propriozeption, d.h. die Verarbeitung der Eingangssignale, abhebt. Er lässt – um beim Beispiel des plyometrischen Trainings zu bleiben – die Generierung der Bewegung im zentralen Nervensystem und die Signalübertragung an die Muskelfasern außen vor.

Und selbst die reduzierte Sicht auf das fasziale System bringt die zellulären Mechanismen der Fibroblasten und Fasciazyten nicht ausreichend zur Geltung. Und sie verdrängt z.B. Effekte auf das Lymphsystem.

Insofern ist auch das hier gezeichnete Bild nur unvollständig. Es ist aber vielleicht ein Modell, welches jenseits der Ordnung nach den vier Prinzipien zum besseren Verständnis beitragen mag.

Fazit

Ob vier oder mehr Kategorien, ob Darstellung als Kontinuum, ob Trennung nach neuronalen und strukturellen Wirkungen: die Betrachtung der Funktionen des faszialen Systems zur Einordnung von Übungen im Faszientraining macht Sinn. Aber auch andere Kriterien sind denkbar.

Pragmatische Kategorisierungen können helfen, dass Faszientraining besser zu verstehen und zu steuern: der Sinn von Übungen wird klarer, bei gegebenem Fokus kann man innerhalb einer Kategorie nach Übungsalternativen suchen oder mit gleichmäßiger Streuung über verschiedenste Kategorien ein umfassendes Training sicherstellen.

 

 

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