Nachdem wir einen Blick darauf geworfen haben, was Faszien sind, sollte es um das Faszientraining gehen. Doch vorher bleibt die Frage: Sind Faszien überhaupt trainierbar?
Es mag manchem selbstverständlich erscheinen. Doch aus einer plausiblen Begriffsbildung folgt noch keine Tatsache. Lange haben führende Sportwissenschaftler die Thematik debattiert. Mit dem zweiten CONNECT Kongress Ulm zu Bindegewebe in der Sportmedizin kann man von einem Konsens ausgehen.
Wir nähern uns der Frage in vier Schritten. Und wie immer ein wenig populärwissenschaftlich.
Wortklauberei
Begriffe, die auf ‚Training‘ enden, gibt es viele. Manchmal beginnt das Wort mit einer sportmotorischen Fähigkeit, z.B. Krafttraining, Ausdauertraining, Koordinationstraining, Beweglichkeitstraining, Schnelligkeitstraining. Manchmal geht es um konkrete Sportarten (Fußballtraining, Schwimmtraining) oder die grobe Zielsetzung (Athletiktraining). Oder es wird beschrieben, welche Hilfsmittel Anwendung finden, wie bei Langhanteltraining oder Kettlebell-Training.
Eine weitere Kategorie stellt Körperregionen, Körperfunktionen, Körpersysteme voran. Man denke an Beckenbodentraining, Atemtraining oder eben Faszientraining. Denn wie im vorhergehenden Beitrag erläutert, verwende ich das Wort ‚Faszien‘ im Sinne des faszialen Systems.
Es geht also um Training des faszialen Systems. Training wiederum meint ’sportliches Training‘. Und das ist klar definiert. Im Beitrag über Functional Training hatte ich die Definition wie folgt adaptiert:
… ein zielgerichteter, planmäßiger und systematischer Handlungsprozess zur Steigerung der körperlichen Leistungsfähigkeit durch strukturelle und funktionelle Anpassungserscheinungen des Organismus aufgrund wiederholter, überschwelliger Belastungsreize.
Wenn wir also wissen wollen, ob Faszien trainierbar sind, müssen wir schauen, ob spezifische Belastungen zu spezifischen…
Anpassungsreaktionen des Faszialen Systems
… führen.
Starten wir mit ein wenig Historie. Der Berliner Chirurg Julius Wolff beschrieb 1892 in „Das Gesetz der Transformation der Knochen“, dass sich die Festigkeit knöcherner Strukturen bei regelmäßiger Belastung erhöht bzw. der Knochen bei fehlender Belastung abgebaut wird. Schön und gut. Aber was hat das mit Faszien zu tun? Knochen hatten wir doch ausgenommen.
Mit Erkenntnissen rund um zelluläre Reaktionen auf mechanische Reize (Mechano-Transduktion) erlebte dieses Wolff’sche Gesetz in den 1960er Jahren eine Verfeinerung hin zum sogenannten Mechanostat-Modell des amerikanischen Chirurgen Harold Frost.
Er beschrieb die Anpassungsreaktionen zunächst ebenfalls für Knochen, übertrug die Konzepte allerdings auf kollagene Bindegewebe generell. Interessanterweise hatte Henry Gasset Davis derartiges bereits 1867 für Bänder beschrieben. Ihm zu Ehren spricht man daher „in der Faszienwelt“ vom Davis’schen Gesetz.
Doch wie äußert sich das konkret? Ein Beispiel: Babies kommen nicht nur mit weicher Haut, sondern mit sehr weichem, gut gewässertem Bindegewebe auf die Welt. Auch die faszialen Hüllen der Oberschenkel (fascia lata) sind gleichmäßig weich. Mit dem Weg über das Krabbeln in den Stand und dem zweibeinigen Gang ändert sich dies. Auf der Außenseite der Oberschenkel verdicken und verfestigen sich die faszialen Strukturen zu einer straffen, sehr zugfesten Verbindung vom Darmbein zum Schienbein: dem tractus iliotibialis. Die Beanspruchung verändert das Gewebe.
Interessanterweise gibt es auch Menschen, die auf der Oberschenkelinnenseite festere Gewebestrukturen entwickeln: Reiter. Der Grund ist sicher leicht nachzuvollziehen.
Umgekehrt ist bekannt, dass Immobilisierung (z.B. bei einem Gipsverband oder bei Couch Potatoes) zu einer „Verfilzung“ der faszialen Strukturen führt. Die fehlende Bewegung verhindert eine optimale Ausrichtung der Kollagenfasern. Dies verändert die mechanischen Eigenschaften der Struktur negativ.
Studienbeispiele
Doch kommen wir zurück zu Bewegung. Zum Hüpfen zum Beispiel. Für Kinder ist das eine Selbstverständlichkeit. Aber was passiert, wenn man ältere Herren springen lässt? Nach 11 Wochen progressivem Hüpftraining springen sie bei kürzerer Bodenkontaktzeit höher. Na, logisch. Interessant ist allerdings, dass diese Verbesserung kaum durch muskuläre Veränderungen induziert wurde, sondern durch erhöhte Steifigkeit der faszialen Hüllen der Wadenmuskulatur und größerer Energiespeicherfähigkeit der Achillessehne. Das Hüpfen führt also primär zu faszialen Anpassungen. Und das auch im Alter.
Hätte es auch durch Wadenheben Anpassungen gegeben? Ja. Aber andere und auch nur bei ausreichend hoher Belastung. Krafttraining übt eher gleichmäßigen Zug auf die beteiligten Sehnen aus. Es erhöht sich die Steifigkeit, d.h. der Widerstand gegen Verformung durch den Zug. Dies verbessert die Kraftübertragungseigenschaften. Ist Krafttraining also Faszientraining? Dazu weiter unten mehr.
Wer genau gelesen hat: bei ausreichend hoher Belastung. Ohne Überschreitung einer Reizschwelle findet keine Anpassung statt. Und die scheint bei faszialem Gewebe vergleichsweise hoch. Aber einmal überschritten, kommen die Mechanismen in Gang. Eine weitere Belastungserhöhung scheint keine zusätzliche Wirkung zu haben. Manchmal benutzt man das Bild eines Kippschalters. Einmal umgelegt ist angeschaltet. Wer hier Lust auf wissenschaftliche Literatur hat, wird bei Arampatzis et. al fündig.
Eine tolle Studie wurde von Nosaka und Lau (Cowan University) auf dem Fascia Research Congress 2018 in Berlin vorgestellt. Sie untersuchten die Reaktion auf 10 Sätze mit 6 Wiederholungen maximal exzentrischem Training der Armbeuger. Dass man von einmal Training keine dicken Muckis bekommt, scheint einleuchtend. Und doch. Die faszialen Hüllen des M. biceps brachii verdickten sich innerhalb von 5 Tagen nach dem Training auf das Doppelte. Selbst nach vier Wochen war diese Verdickung noch vorhanden. Die Faszien haben unmittelbar und deutlich reagiert.
Ursprüngliche Kritik
Das mag nun alles sehr plausibel klingen. Woher kam die ursprüngliche Skepsis? Hauptkritik war in den meisten Fällen, dass man Faszien nicht isoliert trainieren könne und es somit Faszientraining nicht geben kann. Zunächst einmal ist die Beobachtung richtig. Das fasziale System braucht Bewegung und diese kann z.B. nicht ohne Aktivität der Muskulatur erzeugt werden.
Allerdings offenbart die Argumentation nicht nur das überholte Verständnis, die Faszien seien ohnehin nur „nutzlose“ Hüllen und werden eben mitbewegt. Sie hat eine entscheidende Schwäche: Jegliche Art von Bewegung involviert unterschiedliche Systeme. So wird auch beim Krafttraining das cardio-vaskuläre System beansprucht und ein Marathonläufer benutzt seine Muskulatur.
Doch niemand wird erwarten, dass ein Läufer plötzlich im Kraftdreikampf brilliert oder ein Bodybuilder einen Ironman gewinnt. Warum? Spezifische Reizsetzungen im Krafttraining sorgen für einen Kraftzuwachs, der Effekt auf die „Ausdauer“ ist minimal und nicht das primäre Trainingsziel. Analog für den Läufer. Das ist das berühmte SAID-Prinzip: Specific Adaptations to Imposed Demands.
Wir haben gesehen, dass das fasziale System auf spezifische Reizsetzungen mit strukturellen Anpassungen reagiert. Natürlich wirkt Krafttraining auf das fasziale System, aber es lässt sich eben noch stärker auf die Faszien fokussieren. Auch Ausdauertraining kann faszialer gestaltet werden.
Wie das geht, beleuchtet der nächste Beitrag in dieser Serie.